Jens von Fintel
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Zur Dekonstruktion des pornographischen Diskurses

Elfriede Jelineks Lust

Von
Jens von Fintel

| 0. Einleitung |
| 1. Der pornographische Diskurs |
| 2. Aspekte der pornographischen Narrativik und ihre Dekonstruktion in Lust |
| 3. Die Sprache |
| 4. Die generelle Deplazierung des pornographischen Diskurses |
| 5. Schlußbemerkung | Literaturverzeichnis |

0. Einleitung

Fünf Jahre nach Erscheinen von Elfriede Jelineks Lust [1] ist zumindest einer der Topoi, der wissenschaftliche Arbeiten zum Thema einzuleiten pflegt, obsolet geworden: von einer auffälligen Diskrepanz zwischen reichhaltiger kritischer und "nur schleppend in Gang" kommender wissenschaftlicher Rezeption [2] kann kaum noch die Rede sein. Neben einer doch recht beachtlichen Fülle von Aufsätzen und kürzeren Untersuchungen zu Lust [3] steht nunmehr auch eine - im einzelnen freilich nicht unproblematische - umfangreiche Dissertation Jutta Schlichs [4], die sich ausschließlich, und eine Arbeit Annette Dolls [5], die sich zu einem gewichtigen Teil mit Lust auseinandersetzt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Lust zum pornographischen Diskurs, die in der kritischen Aufnahme des Textes noch von zentraler Bedeutung war [6], ist dabei in der wissenschaftlichen Diskussion eher an den Rand gerückt [7]. Dies ist gewiß als Reaktion auf den "Medienwirbel der Pornographiediskussion" [8] verständlich und läßt sich durchaus rechtfertigen mit dem Hinweis, in Lust werde das "Gewaltverhältnis der Geschlechter" in der Destruktion einer ganzen Reihe von Diskursen vorgeführt: "von der katholischen Religion bis zur Pornographie" [9]. Doch scheint mir, daß eine Kommentierung des Jelinekschen Textes, die eine Kontextualisierung im Zusammenhang des pornographischen Diskurses nicht in den Mittelpunkt der Interpretation stellt, notwendig das - freilich dezentrierte - Zentrum des Textes verfehlt. Vor allem aber wird sie kaum in der Lage sein, die Erzählstruktur von Lust, und um diese Struktur soll es hier vornehmlich gehen, angemessen zu beschreiben.

Wenn nun in der vorliegenden Arbeit versucht werden soll, das Verhältnis von Lust zum pornographischen Diskurs mit Hilfe des Leitbegriffs Dekonstruktion zu klären, so geht es nicht darum, der langen Reihe von Begriffen, mit denen verschiedene Aspekte der literarischen Technik und Intention Jelineks benannt worden sind - seien es "Montage", "Collage", "Mimikry", "Umkehrung", "Verfremdung", "Satire" oder "Entmythologisierung" -, nun einen weiteren, möglichst modischen Begriff anzufügen [10]. Vielmehr, so scheint mir, ermöglicht der Begriff der Dekonstruktion die "Paradoxie einer antipornographisch-pornographischen Versprachlichung" [11] der Sexualität, die den Jelinekschen Text kennzeichnet, adäquat zu erfassen und auch in ihrer Widersprüchlichkeit zu begreifen.

Dabei wird hier unter Dekonstruktion, in Anlehnung an Derridas Konzeption der Dekonstruktion als philosophische Strategie, eine literarische Strategie verstanden, die einen Diskurs radikalisierend rekonstruiert, seine inhärenten Widersprüche mobilisiert und ihn so von innen heraus destruiert. Zugleich läßt die Dekonstruktion das, was der Diskurs verdeckt, wider ihn auftreten und versucht eine "generelle Deplazierung" [12] des Diskurssystems zu erreichen.

Bevor aber nun die Praxis der Dekonstruktion als literarische Strategie in der Dekonstruktion des pornographischen Diskurses bei Jelinek aufgesucht und beschrieben werden kann, muß zunächst das Konzept eines 'pornographischen Diskurses' näher erläutert werden.

 

Dieser Text entstand 1994 im Zusammenhang mit einem Hauptseminar zur deutschen Literatur nach 1945, das von Prof. Dr. U. Liebertz-Grün an der Universität zu Köln gehalten wurde.
Er wird hier erstmals veröffentlicht.

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1 Elfriede Jelinek: Lust. Reinbek b. Hamburg: 1989. Im folgenden mit Seitenangabe im Text zitiert.

2 Matthias Luserke: Ästhetik des Obszönen. Elfriede Jelineks 'Lust' als Protokoll einer Mikroskopie des Patriarchats. In: Meyer-Gosau, Frauke (Hg.): Elfriede Jelinek. (= Text und Kritik, H. 117, 1993). S. 60.

3 Genannt seien hier die Arbeiten: Gertrud Koch: Sittengemälde aus einem röm. kath. Land. Zum Roman "Lust". In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a. Main: 1990. S. 135-141. Christa Gürtler: Die Entschleierung der Mythen von Natur und Sexualität. In: dies. (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a. Main: 1990. S. 121-134. Günther A. Höfler: Sexualität und Macht in Elfriede Jelineks Prosa. In: MAL, 23 (1990), H. 3/4, S. 99-110.; Allyson Fiddler: Problems with Porn. Situating Elfriede Jelinek's Lust. In: GLL 44 (1991) S. 404-415.; Hans H. Hiebel: Elfriede Jelineks satirisches Prosagedicht 'Lust'. In: Sprachkunst, 22 (1992), S.291-308. und die Arbeit von Luserke (s. Anm. 1).

4 Jutta Schlich: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur. Am Beispiel von Elfriede Jelineks "Lust". (Diss. Heidelberg). Tübingen: 1994. (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 71).

5 Annette Doll: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen. (Diss. Köln 1992). Stuttgart: 1994.

6 Wenngleich die Frage in der Literaturkritik sehr unterschiedlich beantwortet worden ist. Neben dem Schlagwort vom "Anti-Porno" (vgl. Luserke, Ästhetik, S. 60), steht die Vermutung, es handele sich bei Lust um einen "weiblichen Porno" (Volker Hage: Unlust. In: Die Zeit, 7.4.1989.), oder der Eindruck, der Text sei zwar "obszön, aber nicht pornographisch" (Jörg Drews: Staunenswerter Haßgesang - aber auf wen? In: Süddeutsche Zeitung, 15.4.1989.)

7 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz Allyson Fiddlers (s. Anm. 2).

8 Christa Gürtler: Vorwort. In: dies. (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a. Main: 1990. S. 7-16. hier: S. 14.

9 Gürtler, Entschleierung, S. 125f. Von eher unfreiwilliger Komik ist dagegen das Argument Luserkes, daß sich Lust nicht "im Gattungstypus eines Pornos oder Anti-Pornos erschöpfen" könne, weil es sich nämlich bei einer Quantifizierung der "thematischen Proportionen des Textes bis hin zur wortstatistischen Auswertung" erweise, "daß allenfalls ein Viertel des Gesamtumfangs sich direkt sprachlich und thematisch mit Sex beschäftigt". (Luserke, Ästhetik, S. 61).

10 Auch der Begriff der Dekonstruktion ist natürlich schon auf Jelineks Poetik und Intention angewendet worden, so im Falle von Lust etwa bei Doll, Mythos, S. 152 u.ö. und mit einiger Konsequenz bei Höfler, Sexualität, S. 100 u.ö.. Doch wird der Begriff der Dekonstruktion im Ganzen eher beliebig eingesetzt und ohne das heuristische Potential des Begriffs für die Jelinek-Kommentierung wirklich auszuschöpfen.

11 Hiebel, Prosagedicht, S. 295.

12 Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Frankfurt a. Main u.a.: 1976. S. 154.

1. Der pornographische Diskurs

Eine Kommentierung des Jelinekschen Textes, die ihn in den Zusammenhang eines 'pornographischen Diskurses' stellt, steht immer vor einem gewichtigen Problem. Der Begriff des Pornographischen dient seit seiner Prägung im 19. Jahrhundert [13] als Kampfparole [14] und Chiffrenbegriff: große Mobilisierungskraft durch stark besetzte konnotative Umfelder und konnotative wie denotative Polysemie sind seine Merkmale. Und noch heute - oder eben gerade heute [15] - ist die Bedeutung des Wortes 'Pornographie' sowohl nach seiner Extension als auch in seiner Intension höchst unklar [16]. So mag es denn zunächst zweifelhaft sein, ob dieser Begriff überhaupt soweit terminologisierbar (und damit operationalisierbar) ist, daß er von einigem heuristischen Wert für eine literaturwissenschaftliche Diskussion sein kann [17].

Wenn, wie in der vorliegenden Arbeit, die Dekonstruktion des pornographischen Diskurses nicht als Dekonstruktion der Mythologeme oder Ideologeme der Pornographie beschrieben werden soll, sondern als literarische Strategie, die ihrerseits auf die Strategien des pornographischen Erzählens zielt, und die sich in der Erzählstruktur des Lust-Textes abbildet, so ist es naheliegend, den Begriff des pornographischen Diskurses auch aus eben dieser Strategie des pornographischen Erzählens heraus zu entwickeln.

Deshalb wird im folgenden davon ausgegangen, daß der pornographische Diskurs wesentlich gekennzeichnet ist durch seine strategische Eindimensionalität. Der pornographische Text im pornographischen Diskurs [18] ist in seiner Realisierung in der Lektüre beschränkt auf "das eine Ziel" [19], die Realisierung des 'pornographischen Effekts':

der pornographische Roman [..] hat ein physiologisches Ziel: Er will bei seinem Leser die sexuelle Begierde wecken, ihn in einen Zustand der Spannung und des Mangels versetzen, aus dem er sich durch ein außerliterarisches Mittel befreien muß. [20]

Der pornographische Text muß,

um seine Funktion zu erfüllen, die darin besteht, beim Leser sexuelle Begierde entstehen zu lassen, eine Strategie anwenden, die geeignet ist, dieses Ergebnis und nur dieses herbeizuführen.[21]

Jedes von diesem 'pornographischen Effekt' ablenkende Moment des pornographischen Textes tritt im pornographischen Diskurs als "Störfaktor" [22] auf. Der pornographische Text ist deshalb von restriktiver, erzählstrategischer Ökonomie. Die textuelle Umsetzung dieser Ökonomie und ihre Dekonstruktionen in Lust sollen im folgenden Abschnitt nun anhand von drei zentralen Aspekten des Erzählens (der Handlung, die Figuren, dem Erzähler/Erzählerkommentar) beschrieben werden.

 

13 'Pornographie' bezeichnet in der Neuzeit im Anschluß an Rétif de la Bretonnes Le Pornographe (1769) zunächst nur die 'Darstellung der Prostitution', auch sozialreformerische Auseinandersetzung mit der Institution Prostitution (so bei Rétif de la Bretonne). Die Bedeutungsprägung, die zum heutigen Pornographie-Begiff führt, setzt sich erst im 19. Jahrhundert durch. Eine Geschichte des Pornographiebegriffs liegt bislang leider nicht vor, sie gehört zu den wichtigsten Desiderata der wissenschaftlichen Pornographiediskussion.

14 Als Kampfbegriff sei es gegen den Verfall der sittlichen Ordnung, gegen die Macht der Kulturindustrie oder den patriarchalen Herrschaftsdiskurs.

15 'Gerade heute', weil die stark emotionalisierte und sehr polemisch geführte Pornographiediskussion spätestens seit den 80ger Jahren im feministischen Diskurs entscheidend revitalisiert worden ist (vgl. Ronald J. Berger, Patricia Searles, Charles E. Cottle: Feminism and Pornography. New York u. a.: 1991.).

16 Auch in der Jurisdiktion macht der Begriff des Pornographischen Schwierigkeiten. So haben immerhin noch 1990 sowohl der Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht über ihn und seine Bedeutung zu befinden (BGH, 21.6.1990, 1 StR 477/89 u. BVerfG, 27.11.1990, 1 BvR 402/87).

17 Der im Falle von Lust verkaufsfördernde Wert der Kategorisierung Porno/Anti-Porno steht dagegen außer Zweifel (vgl. Luserke, Ästhetik, S. 60).

18 Diese vielleicht etwas kryptisch anmutende Formulierung bedarf der Erläuterung. Der 'pornographische Diskurs' soll hier Beschreibungsbegriff sein, für ein komplexes Kommunikationssystem, das sowohl die Instanzen des Autors, des Textes und des Lesers umfaßt, als auch die kommunikativen (Codes etc.) und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Kommunikation. Der 'pornographische Text' ist - wie die anderen Instanzen - nicht prinzipiell an dieses Kommunikationssystem gebunden (so kann er etwa in einer analysierenden, literaturwissenschaftlichen Lektüre realisiert werden). Andersherum können nicht genuin pornographische Texte einer pornographischen Lektüre unterzogen werden (dies ist möglich vermutlich bei allen Texten, die mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen sexueller Handlungen beinhalten (seien es nun Joyce' Ulysses, ein Roman von D.H. Lawrence oder auch Jelineks Lust selbst). Grundsätzlich gilt leider, daß ein ausgearbeitetes Begriffsinventar zur literaturwissenschaftlichen Beschreibung pornographischer Texte bislang nicht vorliegt; deshalb sind die terminologischen Anstrengungen in dieser Arbeit zu meinem Bedauern unausweichlich.

19 Susan Sonntag: Die pornographische Phantasie. In: Akzente, 17. Jg. (1968), S. 77-95 und S. 169-190. hier: S. 81. [Hervorhebung im Original].

20 Jean Marie Goulemot: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert. Reinbek b. Hamburg: 1993. S. 122. Hier wie auch im folgenden immer wieder werde ich mich in der Beschreibung der pornographischen Erzählstrategien an Goulemont orientieren. Seine Überlegungen sind zwar auf die pornographische Literatur des 18. Jahrhunderts gerichtet, aber der pornographische Diskurs ist historisch recht statisch, so daß hieraus keine Probleme erwachsen müssen. Ansonsten verwende ich als Referenztexte zwei moderne Klassiker: Henry Miller: Opus Pistorum. Reinbek b. Hamburg: 1984. Georges Bataille: Die Geschichte des Auges. In: ders.: Das obszöne Werk. Reinbek b. Hamburg: (47.-49. Tsd.) 1994. S. 5-53.

21 Ebd., S. 70. Genaugenommen muß er dies nicht unbedingt (s. Anm. 18), wird es aber in der Regel, um die Realisierung des pornographischen Effekts zu erleichtern.

22 Ebd.

2. Aspekte der pornographischen Narrativik
und ihre Dekonstruktion in Lust

2.1. Handlung

Die darstellerische Organisation der Handlung im pornographischen Erzählen ist gekennzeichnet durch eine strukturelle Monotonie. Die strategische Eindimensionalität des pornographischen Diskurses erzeugt eine erzählerische Struktur der reinen Addition, 'parataktisch' organisierter Handlungssegmente (Episoden, Sexualakte). Eine 'Geschichte' - verstanden als mehr oder weniger motivierte Verknüpfung der Handlungssegmente - ist nie konstitutiv für den pornographischen Diskurs, weil ohne Belang für den pornographischen Effekt. In diesem Sinne ist der Einwand, "pornographische Werke hätten nicht jene durch Anfang, Mitte und Schluß gekennzeichnete Form, die charakteristisch sei für echte Literatur", der "pornographischer Roman begnüge sich mit einer plumpen Ausrede für den Anfang: und habe er einmal begonnen, gehe es weiter und weiter und ende nirgends", durchaus berechtigt [23].

In Lust wird diese strukturelle Monotonie des pornographischen Diskurses nicht verborgen, sondern inszeniert und radikalisiert. "Das Buch erzählt keine Geschichte" [24]; in der Tat: eine Lust zugrundeliegende Handlung muß mühsam rekonstruiert werden [25]. Dominant ist vielmehr die (erzählerische) Monotonie des Geschlechtsverkehrs "in ewiger Wiederholung" (78): "Jeden Tag dasselbe [...]" (38).

Die Radikalisierung der Monotonie erfolgt in Lust dadurch, daß die inszenatorische Variation der Sexualhandlungen (Arrangements), die in der pornographischen Erzählung die strukturelle Monotonie verdeckt, auf ein Minimum reduziert wird. So wird der Variation der Figurenkonstellation einzelner Akte [26] eine - eher realistische - Statik der Konstellation Hermann/Gerti entgegengesetzt und das Versprechen des Neuen ("jetzt wird alles anders" (107)), das in der Veränderung der Figuration (Hermann/Gerti zu Michael/Gerti) liegt, sofort destruiert:

Leider ist es diesmal nicht ganz neu, denn er hat es vorhin genauso gemacht. Da seid ihr endlich in eurer Haut, und eure Lust bleibt immer dieselbe! Sie ist eine endlose Kette von Wiederholungen [...]. (123)

Desgleichen wird auch die Variation durch Einführung 'exotischer Orte' [27] im pornographischen Erzählen destruiert durch realistischere Situierung der Akte in Lust (Bett, Wohnzimmer, Badezimmer, Auto etc.). [28]

Die 'endlose Kette von Wiederholungen', die strukturelle Monotonie, die den pornographischen Diskurs auszeichnet, wird so in Lust auf die Spitze getrieben und wendet sich gegen den pornographischen Effekt.

 

23 So referiert Susan Sontag eins der landläufigen Argumente gegen einen Kunstcharakter der Pornographie (Sontag, Phantasie, S. 81.

24 Anna Weber: Sandmann und Olimpia. Annäherungen an 'Lust'. In: TAZ, 8.4.1989.

25 Jutta Schlich hat den Versuch einer minutiösen Fabel-Rekonstruktion unternommen (Schlich, Phänomenologie, S. 83-100), kommt mitunter aber zu fragwürdigen Ergebnissen. Auf die Rekonstruktion eines Handlungssegmentes soll hier exkursartig näher eingegangen werden. Schlich schreibt über das 14. Kapitel, nach Rückkehr der Gerti werde "der Direktor wieder einmal 'automatisch warm bei ihrem Anblick' (214). Gerti aber, die 'mit der Automatik Steuerung nicht zurechtkommt' (215), versucht unter dem Vorwand, mit dem Kind zu spielen, ihm zu entkommen (216)." In Lust heißt es an dieser Stelle: Sie wälzt sich mit dem Sohn auf dem Vorzimmerteppich, im Vorwand zu spielen, aber ihre Hand (sie schweißt nicht) greift dem Kind schon heftig unter den Hosenbund. (216) Der "Vorwand zu spielen" ist also keineswegs Vorwand um den Nachstellungen durch ihren Mann zu entgehen, sondern Vorwand "dem Kind [..] heftig in den Hosenbund" zu greifen. Die handfeste Andeutung eines Kindesmißbrauchs wird im folgenden noch deutlicher: "das Kind versinkt bereits wie Kleintierfutter unter der Scheide der Mutter, die sich gestreng in sein Fleisch bohrt." (217). Nun soll diese Fehlleistung der Lektüre hier gewiß nicht überbewertet werden, aber seltsam bleibt schon, daß auch in anderen wissenschaftlichen Arbeiten zu Lust diese Episode keinerlei Beachtung findet. Sollte dieser 'blinde Fleck' auf eine allzu sorglose Harmonisierung in der Lektüre des Textes verweisen, die widerständige (und mißliebige) Textpartien ausblendet (hier: Gerti als Subjekt sexueller Aggression)? Dann wäre die 'Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur' zu ergänzen um eine Ideologiekritik der Literaturwahrnehmung.

26 Vgl. etwa die rastlose Variation der Figurenkonstellation bei Miller, Opus Pistorum.

27 Vgl. etwa die Stierkampfarena oder die Kirche in Bataille, Geschichte.

28 Auf eine dritte Variationsmöglichkeit verzichtet Jelinek gänzlich: fetischisierte Objekte werden nicht verwendet (vgl. dagegen die Eier, die Stierhoden und natürlich das Auge in Bataille, Geschichte.

2.2. Figuren

Die strategische Eindimensionalität des pornographischen Diskurses ist nicht allein verantwortlich für die strukturelle Monotonie des pornographischen Erzählens, sondern führt zugleich zu einer prinzipiellen Entindividualisierung und Funktionalisierung der Figuren:

Sie [die Figuren; JvF] sind reine Funktion. Da ist es unwichtig, ob eine Frau jung oder alt, brünett oder blond, groß oder schön oder häßlich, hager oder üppig ist, denn es ist ihre Begierde und nur sie allein, die ihr Zugang zur Romanwelt verschafft. Die Zugehörigkeit zu dieser paradoxerweise ganz körperlichen und doch abstrakten Welt der pornographischen Helden ist abhängig von der Fähigkeit zum Geschlechtsgenuß. Denn ihr Romanschicksal beschränkt sich auf diese erwartete, gewünschte und schließlich erlangte Lust. Diesseits und jenseits davon sind sie nichts. Über ihre anatomischen Besonderheiten wird man immer mehr erfahren als über ihren Charakter. So etwas wie psychologische Tiefe gibt es überhaupt nicht. [29]

In Lust wird diese Depersonalisierung markiert bereits auf onomastischer Ebene. Die Figuren werden allenfalls durch ihren Vornamen benannt (Hermann, Gerti, Michael) [30] und tragen keinen, bürgerliche Identität suggerierenden vollen Namen. Meist aber werden sie vollends typisierend anhand ihrer Funktion bzw. Stellung in - seien es sexuelle, familiäre oder soziale - Figurationen gekennzeichnet: der Mann/die Frau (/das Kind), der Vater/die Mutter/der Sohn, der Direktor/die Frau des Direktors/der Sohn des Direktors/der Student.

Neben die Depersonalisierung der Figuren tritt im pornographischen Diskurs wie in Lust die Fragmentarisierung der Körper:

Der schwere Schädel des Direktors wühlt sich beißend in ihr Schamhaar [...]. Er neigt sein Haupt ins Freie und drückt statt dessen das ihrige an seinen Flaschenhals, wo es ihr schmecken soll. Ihre Beine sind gefesselt, sie selbst wird befühlt. Er spaltet ihr den Schädel über seinem Schwanz, verschwindet in ihr und zwickt sie als Hilfslieferung noch fest in den Hintern. Er drückt ihre Stirn nach hinten, daß ihr Genick ungeschickt knackt, und schlürft an ihren Schamlippen [...]. (17). [Hervorhebungen von mir; JvF].

An die Stelle eines autonomen Subjekts und des integralen Körpers tritt im pornographischen Diskurs die ubiquitäre Begierde als alleiniges Prinzip des Handelns. Diese Ökonomie der Begierde wird in Lust fortgeschrieben und dies keinesfalls nur als männliche Gier, so heißt es von Gerti:

Ließe man sie, wie sie wollte, gleich folgte sie wieder ihren neuesten Begierden und stürmte ins Beträchtliche, das Michael heißt. (226)[...] unaufhörlich tönt es dumpf vor Gier in ihr. [183f.]

Die Depersonalisierung der Figuren und ihre Entmachtung durch die Automatik des Begehrens läßt die Sexualakte zum mechanischen Vollzug werden - wiederum sowohl im pornographischen Diskurs als auch in Lust. So werden in Lust denn auch die Organe dieses Vollzugs zu technischen Gerätschaften, das männliche Genital zur "elektr. Leitung" (26), zum "kompakten Brennstoffgerät" (31), "Tauchsieder" (112) oder 'Bohrkopf' (233), die "heftigen Kolbenstöße" (110) sein Geschäft. Der Anus der Frau wird zum "Kofferraum" (32) oder zur "kleinen Pilotenkanzel" (27), ihre Beine zu "Oberleitungsbügel" (108) oder "Baggerschauffeln" (19), die Klitoris zur "singenden Nervensäge Klitoris" (113). [31]

Doch zugleich steht in Lust gegen die pornographische Utopie einer Ubiquität der Begierde, eine - im pornographischen Erzählen allenfalls am Rande, als retardierendes Moment mögliche - UnLust der Frau [32]:

Nicht will an seinem scharfen Strahl sie sich laben, aber sie muß, die Liebe verlangt's. (40)

 

29 Goulemot, Bücher, S. 129f.

30 Auch diese Vornamen bürgen nicht für individuelle Identität. Bei 'Gerti' verschwindet die Individualität hinter dem Diminutiv ebenso wie bei 'Her(r)mann' hinter der Typologisierung. 'Hermann' schließt an an die - auch im pornographischen Diskurs wirksame - Tradition der 'sprechenden Namen' (vgl. etwa 'Fanny Hill') und benennt zugleich in der Opposition zum Diminutiv 'Gerti' die Machtverhältnisse im pornographischen Diskurs.

31 Die Bedeutung dieser "Ikonographie der Maschine und des Mechanismus" (Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert. Reinbek. b. Hamburg: 1987. S. 135) kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Vgl. dazu die Überlegungen von Doll, Mythos, S. 170-175.

32 Der Vergewaltigungsmythos ist im pornographischen Diskurs die ideologische Form des retardierenden Funktionselementes weibliche Unlust (Nichtbegierde) als Verweigerung. Er wird in Lust zitiert ("Die Frau wehrt sich, doch gewiß nur zum Schein [...]." (18).

2.3. Der Erzähler und sein Kommentar

Der Erzähler im pornographischen Diskurs ist in aller Regel 'Ich- Erzähler' [33]:

Die Ich-Erzählung ist notwendig, um durch eine gleichsam individualisierte Redeweise so etwas wie Intimität mit dem Leser herzustellen [...].[34]

Doch der Erzähler ist zugleich enthusiasmierter Akteur und begibt sich so in eine widersprüchliche Position:

In der Logik einer Erzählung in der ersten Person müßten die Liebesspiele streng vom Standpunkt des Helden aus geschildert werden; doch bedeutet der geschlechtliche Genuß nicht die Aufhebung des Äußeren, den VerLust des Bewußtseins, das heißt die Unmöglichkeit Distanz zu wahren, was aber der Diskurs des Erzählers eigentlich impliziert? Wie kann man eine orgiastische Wirkung erzeugen und jenen Augenblick von außen zeigen, in dem der Mensch so sehr eins wird mit dem, was er empfindet, daß er die Position des außenstehenden Erzählers aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufrechterhalten kann? [35]

Und weiter: wenn der Erzähler selbst Akteur im pornographischen Arrangement ist, als auftretender Erzähler zur Figur wird, so hat er Anteil auch an der Depersonalisierung, Entindividualisierung der Figuren. Auch er gehorcht der Ökonomie der ubiquitären Begierde, die ihn als Subjekt entmachtet:

Wenn ein Held als Subjekt sexuellen Handelns, dem alle anderen zum Objekt werden, vorgeführt wird, ist dieser Held so sehr dem Prinzip der Sexualität unterworfen, daß auch sein Subjekt-Sein nur sehr eingeschränkt gilt. Denn auch er ist nur soweit Subjekt, soweit es das sexuelle Handeln zuläßt. Anderes kennt er nicht. Seine Subjektivität ist auf das sexuelle Verlangen reduziert.36]

In Lust werden diese Widersprüche ausgiebig zur Dekonstruktion des pornographischen Diskurses genutzt. So setzt sich die Depersonalisierung und Fragmentarisierung der Figuren uneingeschränkt fort in der Deplazierung der Subjektposition der erzählenden Rede. Ein 'Erzähler-Ich' wird mitunter greifbar:

Die Frauen des Dorfes sind nur Beilage zum Fleisch der Männer, nein, ich beneide euch nicht. (92)Die Jugend. So angehäuft ist sie in sich! Ich gehöre leider nicht mehr dazu. (191)[...] und dann kommt die Zellulose in die Papierfabrik, wo bis zur Unkenntlichkeit Verkleinerte sie bearbeiten, habe ich zumindest gehört und bin zufrieden, daß ich, die ich frei bin, in der Mittagshitze mein Echo in den stillen Wald erbrechen kann. (80)

Es geht auf in verschiedenen Kollektiva:

Von der Hüfte abwärts gehören wir Männer eben zusammen. (244) [...] so sind wir Frauen reiferer Jahrgänge halt gebaut. (180)Dieser Michael, bei einem Sturz wird er nicht die Erde spalten, wie wir Ungeschickteren es täten. (179)

Es verschwindet schließlich im Erzählerkommentar, dem kaum mehr ein identifizierbares Aussagesubjekt zugeordnet werden kann, der gewiß aber gänzlich unenthusiasmiert vom Geschehen, stets in kühler und ironischer Distanz zur Handlung verharrt.

Die nicht-narrativen Elemente, im pornographischen Diskurs eher randständig als retardierende Momente vertreten, überlagern in Lust die Narration. Im Erzählerkommentar wird der pornographische Diskurs um das, was in ihm verschwiegen wird, ergänzt und auf seine gesellschaftlichen Bedingungen verwiesen.

Hinter der Ökonomie der Begierde tritt so in Lust die kapitalistische Ökonomie des Tauschwerts hervor und stellt sich gegen jene:

Der Mann schreit in seiner Lust, und die Stimme der Frau schmiegt sich an ihn, damit er seinen Stab schwingen und teure Nettigkeiten für die Wohnung anschaffen möge. Eine neue Garnitur, damit sie eingesetzt werden kann an den Bahnhöfen, wo die beiden ihr seliges Geschlecht reiben gehen. Aber niemand kann zaubern. Als der Mann aus seiner Trunkenheit erwacht, duckt er sich gleich, es der Frau rechtzumachen. Er ist gutmütig. Ja, er bezahlt schon, er hat alles bezahlt, was Sie hier in Farbe abgebildet sehen. Trocknen Sie Ihre Wangen! (42)Unter dem Schutz seines hl. Familiennamens steht sie, und unter dem Schirm seiner Konten, von denen er regelmäßig Bericht erstattet. Sie soll wissen, was sie an ihm hat. Und umgekehrt weiß er von ihrem Garten, der, stets geöffnet, zum Herumwühlen und Grunzen bestens geeignet ist. Was einem gehört, muß auch benutzt werden, wozu hätten wir es denn? (45)

Die Entmachtung des Subjekts durch die Begierde wird auf seine Entmachtung durch das Kapital verwiesen, das Geschlechterverhältnis wird in Lust zum bloßen (ökonomisch bestimmten) Machtverhältnis, das sich in der Sexualität nur aktualisiert und bestätigt.

Kühle Distanz prägt in Lust nicht nur das Verhältnis des Erzählers zum Geschehen, sondern auch das Verhältnis zu den fiktiven Lesern. Der für den pornographischen Effekt so entscheidende scheinbare Intimität wird in Lust mit Dekonspiration begegnet, in beständig wiederkehrenden Dialogismen die Illusion dieser behaglichen Intimität zerstört.

Der Voyeurismus des Lesers wird in Lust thematisch: "haben Sie gesehen, wie er ihn ihr jetzt in den Mund gestopft hat" (146) und die physiologische Seite des pornographischen Effekts konstatiert:

Na, meine Herren und Helden, lassen Sie mich einmal durch den Sucher schauen, Sie haben doch selber jeder ein spannendes Glied! (203),

zugleich aber radikal verneint:

Haben Sie noch immer Lust zu lesen und zu leben? Nein? Na also. (170)

 

33 So auch in den beiden hier herangezogenen Referenztexten: Miller, Opus Pistorum und Bataille, Geschichte. Der Erzähler ist in den Texten des pornographischen Diskurses zwar in aller Regel, aber nicht zwangsläufig 'Ich-Erzähler'. Doch herrscht in diesen Ausnahmefällen strikt monoperspektivisches, personales Erzählen vor, das funktional äquivalent ist zum hier zu Grunde gelegten 'Ich-Erzählen'. (Als ein Beispiel aus der modernen Massenpornographie sei hier genannt: Emmanuelle Arsan: Römische Nächte. Reinbek b. Hamburg: 1993.).

34 Goulemot, Bücher, S. 134.

35 Ebd.

36 Hans Dieter Zimmermann: Das System der Pornographie. In: ders.: Schema-Literatur. Ästhetische Norm und literarisches System. Stuttgart u. a.: 1979. S. 84-95. hier: S. 88.

3. Die Sprache

Die dekonstruktive Funktion der sprachlichen Verfremdungstechniken Jelineks ist oftmals analysiert worden - auch für Lust [37]. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle daher auf eine andere Funktion der rhetorischen Gestaltung.

Im pornographischen Diskurs spielt "die Sprache nur eine untergeordnete Mittlerrolle" [38], sie ist ausschließlich Transportmedium der sexuellen Phantasie. Rhetorisierung (Metaphernbildung etc.) ist dabei nur Mittel, die unausweichliche strukturelle Monotonie zu verdecken, darf aber nicht soweit betrieben werden, daß ein übermäßiger Entschlüsselungsaufwand die Realisierung des pornographischen Effekts in der Lektüre gefährdet. Die Sprache des pornographischen Diskurses steht also im Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Variation und der Gefahr zum Störfaktor zu werden.

In Lust wird zwar bei der Schilderung sexueller Details die drastische, hyperbolische Realistik der Sprache des pornographischen Diskurses fortgeschrieben ("Er reißt ihr den Arsch auf!" (25)) [39]. Doch letztlich ist der Bruch mit der Strategie des pornographischen Erzählens an dieser Stelle am deutlichsten markiert. In Lust wird der inhärente Widerspruch der pornographischen Sprache mobilisiert, die Sprache wird vom Mittler zum Mittelpunkt, sie wird thematisch und zum Problem: "Ich möchte das jetzt an dieser Stelle neu in Worte kleiden" (20). Der Aufwand an Tropen und Figuren [40] läßt den Signifikanten vor das Signifikat rücken, die Rhetorik verdeckt mehr die sexuelle Tätigkeit, als daß sie diese unmittelbar vorstellte. Die notwendige Entschlüsselungsarbeit schafft eine unüberbrückbare Distanz zum sexuellen Arrangement, macht die Realisierung des pornographischen Effekts fast unmöglich.

 

37 Vgl. etwa Doll, Mythos, S. 152ff.

38 Sontag, Phantasie, S. 81.

39 Vgl. etwa Miller, Opus Pistorum, S. 100: "Aber John Thursday preßt seinen Kopf in ihr Arschloch [...] Verdammt, wenn sie jetzt nicht aufreißt".

40 Hiebel nennt Beispiele aus Lust u.a. für Katachrese, kühne Metapher, Amphibolie, Paranomasie, Annominatio, Polyptoton, Kalauer, Zeugma, Galimathias, Entstellung von Redewendungen und Sprichwörtern, Figura etymologica, Assonanz, Binnenreim und Stabreim. (Hiebel, Prosagedicht, S. 297)

4. Die 'generelle Deplazierung' des pornographischen Diskurses

In Lust wird also der pornographische Diskurs in zentralen Punkten seiner textuellen Strategie unterlaufen, ausgehebelt, um das, was er verschweigt, ergänzt. Vor allem aber wird er um seine pragmatische Dimension gebracht: eine Realisierung des pornographischen Effekts wird annähernd unmöglich. Lust deshalb als "Antipornographie" [41] zu bezeichnen, griffe aber zu kurz. Denn der pornographische Diskurs verschwindet in Lust nicht, kann auch in Lust nicht zum Verschwinden gebracht werden.

So wie im pornographischen Diskurs die Begierde das Subjekt entmachtet, so entmachtet die Sprache - in der Logik von Lust - den Sprecher: "hören Sie! Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!" (28). Schon das Kind ist 'seiner' Sprache nicht mächtig: "Kein wahres Wort ist an diesem Kind dran", "Es spricht ja selbst wie aus dem Fernsehen" (12). Die Sprache bemächtigt sich ihrer 'Subjekte' wie die phallische Begierde: "Die Sprache richtet sich ihr auf wie der Penis ihres Mannes dort vorn [...]" (160). Hinter der Sprache verschwindet dieses Subjekt:

Aber um die Sprache sind Menschen ja nie verlegen, und mehr ist auch nicht in ihnen verborgen. (235)

Die Sprache ist das je schon Vorgefundene, das das Besprochene für das Sprechen erst konstituiert. So kann denn Lust auch keinen Anti-Diskurs inaugurieren, weil es außerhalb des pornographischen Diskurses keinen Ort des Sprechens über die Begierde (Lust) gibt.

Daß dieser Mechanismus sich in Lust zeigt, darin liegt die 'generelle Deplazierung' des pornographischen Diskurses. Diese Deplazierung wird erreicht durch eine Verdoppelung: Lust erzählt wie im pornographischen Diskurs von der Begierde, von der Lust erzählt wird.

Der Mann verfügt als Individuum zwar nicht über 'seine' Sprache, findet aber in der Sprache seinen Ort ("Der Mann. Er ist ein ziemlich großer Raum, in dem Sprechen noch möglich ist." (8)). Es der Phallus, der der Frau das Sprechen raubt:

Gleich will die Frau, aus der Geschlechtsnarkose erwacht, wieder zügellos den Mund zum Sprechen benutzen. Sie muß sich statt dessen aufsperren und den Schwanz Michaels in das Kabinett ihres Mundes einlassen. (120).

Der Phallus, der hier das Sprechen der Frau verhindert, ist Metapher für die Phallozentrik des pornographischen Diskurses, die ein nicht-phallisches Sprechen von der Begierde unmöglich macht.

Die Frau wird konstituiert erst in der Verdinglichung durch den männlichen Diskurs: "Der Mann erschafft, vom Wind emporgeweht, die Frau" (24). Ihre Begierde ist durch den Mann (den Phallus) inauguriert. So heißt es nach dem ersten Koitus von Michael und Gerti:

[..] in der Frau. die das Höchste erleben und erledigen wollte, sind kernlose Werke in Kraft getreten worden. Ein Quellgebiet ist erschlossen, von dem sie jahrzehntelang heimlich träumte. Solche Gewalten werden vom immergleichen Gaul, der den Körper des Mannes zieht und von anziehenden Frauen vorangepeitscht wird, ausgesandt und erfassen rasch die zwergenhaftesten Zweige des weiblichen Wesens. Ein Flächenbrand. (116)

Die Syntax der Versprachlichung der Sexualhandlungen in Lust bildet diese Struktur der männlich inaugurierten und männlich identifizierten weiblichen Lust ab, indem die Frau stets Objekt ist.

Im Sprechen von der Begierde (also im pornographischen Diskurs) verschwindet die Frau zugleich wieder in der Herrichtung für die Phallozentrik des Begehrens und der Zurichtung in der männlichen Sexualität:

Die Frau ist dem Nichts entwendet worden und wird mit dem Stempel des Mannes jeden Tag auf neue entwertet. Sie ist verloren. (19)Wie ausradiert scheint die Frau in der neu gekauften Reizwäsche, in der sie sich, auf seine Bitte hin wie in einer neuen Raumordnung umherbewegt. (49f.)Nein, sie wird bald unter den starren Muskeln ihres Mannes, der absahnen will, ausgelöscht werden. (231).

41 So etwa Höfler, Sexualität, S. 99 und Fiddler, Problems, S. 413.

5. Schlußbemerkung

Eine Analyse der Dekonstruktion des pornographischen Diskurses als literarischer Strategie in Elfriede Jelineks Lust konnte hier in vielerlei Hinsicht nur andeutungsweise geleistet werden und mußte sich in weiten Teilen auf eine eher essayistische Darstellungsform beschränken. Auf eine eingehende Diskussion der Sekundärliteratur mußte verzichtet werden, alternative Kontextualisierungsmöglichkeiten mußten augeblendet werden.

Literaturverzeichnis

Quellen

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